Das Projekt „Mystic“
Es gibt viele Menschen, die unter der Last ihrer Schicksalsschläge zusammenbrechen, aber es gibt ebenfalls manche, die sich auch durch eine Reihe von Rückschlägen nicht aus der Bahn werfen lassen.
Alle Sporthundehalter in Ungarn kennen den Namen Richárd Mányik. Wer ihn einmal gesehen hat, wird ihn wohl nicht so schnell vergessen. Richárd ist durch seine Krankheit an den Rollstuhl gefesselt, trotzdem strahlt er viel Kraft und Energie aus. Vor etwa 10 Jahren hat er mich beauftragt, für die Stiftung „Mit dem Hund für den Menschen“ spezielle Hundegeschirre für Therapiehunde zu entwickeln. Diese sollten Gehbehinderte unterstützen. Durch seine Ideen und seine Kenntnis von den tatsächlichen Problemen der Rollstuhlfahrer, ist ein hervorragendes Produkt entstanden. Wir haben unser damaliges Produkt namens „Power-Geschirr“ weiterentwickelt und das erste Therapiegeschirr Europas hergestellt, welches im Kreise der Ausbilder und Gehbehinderten einen durchschlagenden Erfolg hatte. Reflektierende Elemente und ein schließbarer Haltegriff, an dem sich der Rollstuhlfahrer jederzeit festhalten kann, ermöglichen einen sicheren Umgang. Durch seine auffällige blaue Farbe ist das Geschirr in Ungarn unverwechselbar, ja geradezu zu einer „Uniform“ für Therapiehunde geworden.
Ich befand mich gerade für mehrere Jahre zur Hundeausbildung in Österreich. Während dieser Zeit erreichte mich die Nachricht, dass Richárd zunächst mit seinem belgischen Schäferhund „Filip“, dann mit seinem Terrier namens „Oszi“ fünffacher (!) Weltmeister in der Disziplin Para-Agility wurde. Auch als Ausbilder hatte er immer mehr Auftritte in den Medien. Sein Engagement als Mitglied einer Rollstuhltanzgruppe überraschte mich daher gar nicht mehr. Ich fragte mich, was noch kommen könnte, was diesen jungen Mann zu weiteren, alle bisherigen übertreffenden Höchstleistungen antreibt? Wenn jemand mit einer Behinderung leben und seinen Alltag entsprechend gestalten muss, ist jeder Tag für ihn eine neue Herausforderung. Man bedenke nur, dass auch ein kerngesunder Mensch in der heutigen rasanten Welt erst, nachdem er eine Vielzahl von Niederlagen erlitten hat, seinen Erwartungen und denen seiner Umwelt gerecht werden kann. Heutzutage liegt die „Messlatte“ sehr hoch, könnte man sagen. Unsere Gegenwart ist von den „Gesunden“ geprägt. Und natürlich von den Starken, Schönen und all denen, die sich irrtümlich Vollkommenheit vorspielen. Nur selten reichen die Menschen den Bedürftigen wirklich eine helfende Hand.
–Oft ist es damit getan, dass die Steuerzahler den Bestimmungszweck von 1 % ihrer Steuer bestimmen oder einer gemeinnützigen Stiftung vielleicht einmal eine Spende zukommen lassen.. Mehr kann vielleicht nur von denen erwartet werden, die im gleichen Boot sitzen.
Wenn ein Behinderter seinen Schicksalsgenossen helfen will, hat er bereits mehr getan als wozu die meisten gesunden Menschen in der Lage sind. Letztendlich ist es völlig egal, warum und wie, Richárd mich erneut aufgesucht hat. Beim Anhören seiner neuesten Ziele und zugleich der Geschichte von Gabi, die er in der Tanzgruppe kennengelernt hat, war ich bestürzt. Mit 13 landete Gabi infolge einer besonders seltenen Krankheit im Rollstuhl. Als sie sich endlich damit abgefunden hatte, mit dieser Last leben zu müssen, brach die Krankheit in ihrem Körper wieder aus und ging erneut zum Angri über: Sie erblindete innerhalb von 2 Monaten. Die Kraft ihrer Seele und ihr Sinn für Humor konnten aber nicht erschüttert werden. Sie formuliert es so: „Mit meinen zwei Rädern bin ich ähnlich unterwegs wie ein Kamikazeieger.“ Ihre Lage verbessert sich jedoch von Tag zu Tag, weil Gabi immer wieder neue Fertigkeiten entdeckt. Wenn sie mit ihren Fingern schnippt, erkennt sie sich am Echo, wo eine Wand zu Ende ist und wo sich die Türönung bendet. So kann sie sich orientieren Sie macht auch weiterhin in der Tanzgruppe von Richard mit und tritt sogar bei Vorstellungen auf. Eine wirkliche Erleichterung für ihren Alltag wäre aber ein Hund, und zwar einer, der gleichzeitig
als Gehbehindertenhilfe und als Blindenführerhund an Gabis Leben teil haben könnte. Nur wenige Leute auf der ganzen Welt bilden allerdings solche Hunde aus. Einer von ihnen ist Erik Kersting in Deutschland. Er ist ein vielseitiger Meisterausbilder mit einer außerordentlichen Begabung, schwierige Aufgaben zu lösen, und Verantwortungsbewusstsein für seine Mitmenschen. Nachdem ich ihn persönlich kennengelernt hatte, wuchs in mir die Zuversicht, dass sich das Vorhaben umsetzen lässt. Gabis und Richárds Plan: das Projekt „Mystic“. Kurz und knapp: Die beiden suchen nun einen Welpen, der mit Richárd für eine anderthalb Jahre lange Ausbildung zu dem deutschen Fachmann zieht. Im Anschluss will Richard die Ausbildung des Hundes mit den erworbenen Kenntnissen solange fortsetzen, bis Gabi und der Welpe, der selbstverständlich den Namen Mystic trägt, zu einem eingespielten Team zusammenwachsen.
Ein Erfolg dieses Projekts könnte all denen Honung auf Selbständigkeit geben, die die Hilfe des Hundes nicht als eine ihnen aufgezwungene Notlösung ansehen, sondern als ein Erlebnis, als erfolgreiche Teamarbeit.
Meine Aufgabe besteht in diesem Fall nicht bloß darin, einen Teil der nanziellen Grundlagen bereitzustellen, sondern ich entwickel auch die unterstützenden Ausrüstungen für die Ausbildung in diesem Spezialbereich. Ich danke Gabi und Richard sehr dafür, dass ich in eine Welt Einblick gewinnen konnte, die mir ohne sie vielleicht für immer verborgen geblieben wäre. Ich bin davon fest überzeugt, dass ich mich bei der Umsetzung des Projekts „Mystic“ ordentlich ins Zeug legen muss, wenn ich beim Tempo der beiden Rollstuhlfahrer mithalten will.
Sebő Gyula