Ungarn an den 8000 Meter hohen Spitzen der Welt
Erst am Morgen des Interviews wurde mir bewusst, wem ich an diesem Tag begegnen sollte. Einem bekannten, anerkannten und geheimnisvollen Menschen, dessen unerschöpflichen Willen, Körperkraft und Seelenstärke die Medien bewundernd und zugleich mit einer gewissen Verständnislosigkeit erwähnen.
Als erfolgreichster ungarischer Bergsteiger verdiente sich der die 8000 Meter hohen Bergspitzen bezwingende Zsolt Erőss den Beinamen ungarischer „Schneeleopard”. Er verlor bei seinen Expeditionen schon viele Gefährten und am 2. Januar 2010 erlitt auch er schwere Verletzungen, in deren Folge sein rechtes Bein in Höhe des Unterschenkels amputiert werden musste. Seinen Elan und seine Entschlusskraft, die ihn bis dahin zu den herausragenden Leistungen angespornt hatten, konnte diese Behinderung nur für kurze Zeit bremsen. Kaum fünf Monate später begann er erneut zu trainieren und dabei war Lizi, die dreijährige Deutsche Schäferhündin, sein wichtigster Partner. die zwar offiziell in der Nachbarschaft lebt, doch die die sportliche Lebensweise, die Gelegenheit zu Ausflügen und die Tierliebe von Zsolt immer öfter dazu brachten, die Seite des Zauns zu wechseln. Lizi lernte die kurz zuvor eingetretene Veränderung, die Zsolts Verletzung verursachte, kennen und akzeptierte sie. Mit langsamen Spaziergängen nahmen sie die Ausflüge erneut auf und kamen bis zum Skifahren und angestrengten Laufen im Schnee. Diese Übungen sind unverzichtbar zum Erreichen von Zsolts neuem Ziel, das kein anderes als die Erstürmung des dem Mount Everest benachbarten 8500 Meter hohen Gipfels Lhotse ist.
Mein Interviewpartner, dem ich noch nie begegnete, ist so ungesehen für mich ein unerschrockener, vielleicht tollkühner Bergsteiger, der der Kälte, der Erschöpfung und dem körperlichen Schmerz trotzt und in der Lage ist, bis zu 18 Stunden ohne Unterbrechung im Sturmschritt die Achttausender zu erklimmen, doch das wahrscheinlich nur deshalb tut, weil er sich vom Gipfel leichter das nächste lebensgefährliche Ziel in der entsprechenden Höhe aussuchen kann.
Da ich mich vor dem Interview in Zsolt hineinversetzen wollte, frühstückte ich nur mit einem T-Shirt bekleidet einen aus der Konservendose gefangenen öligen Fisch mit Zwieback am einen Spalt breit geöffneten Fenster und kümmerte mich nicht um die Januarkälte von plus 1 Grad. Rasieren wollte ich mich auch nicht, da auf den Fotos alle Bergsteiger Bart tragen, doch zumindest stoppelig aussehen. Ich dachte jedoch, dass es sich angesichts der im Internet veröffentlichten Temperaturen von 20 bis 30 Grad unter Null für über 7000 Meter aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Schreibfehler handelt. In diesem Augenblick hielt ich es nämlich für völlig unvorstellbar, dass jemand begeistert weiterläuft, nachdem er eine ölige Sardine oder irgendetwas anderes wie einen Eiszapfen gelutscht hat. Was heißt weiterläuft! Er klettert, kriecht tausend Meter nach oben, wo garantiert noch sauerstoffärmere Luft und noch raueres Wetter herrschen. Die Pikanterie solcher Kraftprobe liegt darin, dass sie nichts für eitle Menschen ist. Das Bergsteigen gehört zu den seltenen Sportarten, in denen das Ziel, das Erreichen des ersehnten Gipfels für den Ankömmling nicht die Anerkennung durch ein zahlreich versammeltes Empfangskomitee, durch ein Lager von Fans und einen Beifallsturm, sondern die unendliche Einsamkeit und das Klopfen des eigenen Herzens im Ohr des Sportlers bedeuten. Ganz davon zu schweigen, dass die Strapaze mit dem Erreichen des Ziels nicht zu Ende ist. Im Gegenteil! Beim Abstieg kann jede Leichtsinnigkeit oder falsche Entscheidung mit tödlichen Folgen verbunden sein. Die meisten Unfälle von Alpinisten geschehen nämlich nach dem aus der Formel 1 bekannten Verspritzen des Champagners auf dem Rückweg.
Als ich die Fotos von Zsolt betrachtete, die ich aus den Medien kannte, sein lächelndes Antlitz, mir sein Gesicht mit dem ergrauenden Bart und dahinter die Gipfel der unvermeidlichen, gewaltigen Berge ansah, versuchte ich ihn mir mit einem anderen Hintergrund vorzustellen. An einer mit Palmen bestandenen Küste oder in einem aufwändigem Büro hinter dem Marmortisch. Es gelang mir nicht, obwohl ich meiner Phantasie durchaus freien Lauf lassen kann. Ich kam darauf, dass Zsolt Erőss nichts dafür kann. Sein Gesicht ist nicht das eines Bergsteigers, sondern er ist der Bergsteiger in Person! Ohne dass ich ihm begegnet wäre, konnte ich mir einen Bergsteiger nicht mehr anders vorstellen. Seine Gene sind auf die Erstürmung der Gipfel, auf die maximale Kenntnis und Ausnutzung der eigenen Leistungsfähigkeit programmiert. Auf seinem Gesicht, in seinen Äußerungen sind Stärke und Selbstsicherheit, doch keinerlei Aufschneiderei präsent, sein Blick strahlt ganz unmittelbar gute Laune und Interesse aus.
Wir betraten mit dem Filmstab sein Haus, als hätten wir schon mindestens zweimal am Chomolungma zusammen gefrühstückt. Auch sein deutscher Schäferhund begrüßte uns freudig. Wahrscheinlich wurde ihm schon erzählt, dass „K9” kommt und dass Gassi gemacht wird, es Geschenke gibt und alles andere…. In dem im Bau befindlichen Haus war so eng wie in einem Basislager. Wir begannen bald, Storys zu erzählen und ich versuchte, seine Geschichten mit meinen Schlittenerlebnissen am Kékestető, an der höchsten Bergspitze Ungarns (1015m) zu übertreffen. Vergeblich! Es stellte sich rasch heraus, dass er zu den Menschen gehört, die die Landschaft, die Düfte, das Plätschern des Gletscherbachs mit sich nehmen und sie vor dir erstehen lassen, wenn sie zu erzählen beginnen.
Inzwischen kleideten wir unseren Helden dreimal in verschiedene Kleidungsstücke der Marke „Julius-K9” um und prüften so die Möglichkeiten zur Ausstattung der nächsten Expedition. Dabei erlebte ich eine ziemliche Überraschung. Bei der Untersuchung der Kleidungsstücke, die Zsolt beim Bergsteigen nutzt, wurde mir klar, dass die Jacke eines Alpinisten nicht zahlreiche Schnallen, Reißverschlüsse und nicht mindestens 80 verschiedene Schichten von Isoliermaterialien aus dem Forschungslabor der NASA braucht, sondern Gänsefedern! Möglichst Kecskeméter (von ihrer Gänsehaltung bekannte Stadt in der Pußta) Gänsefedern, denn wenn schon, dann sollen es Gänse aus Ungarn sein! Das Gesamtgewicht der Jacke beträgt so nicht mehr als ein halbes Kilo, ihre Dicke ist die einer Übergangsjacke von hier, aus unserer Gegend, dem Komitat Pest.
Die andere Bergsteiger-Jacke, dünn wie eine Windjacke, versuche ich erst gar nicht zu beschreiben, es würde sowieso niemand glauben.
Zsolt erzählte inzwischen die Geschichte eines Tibeter Bergsteiger-Hundes, dessen Ruf die dorthin kommenden Alpinisten schon weit verbreiteten. Die Tibeter Hunde haben es in der Regel nicht leicht. Herrenlos ist es besonders schwer in den rauen Gegenden zu leben, in denen sie kaum Futter finden. Interessanterweise sind darunter selten langhaarige Hunde mit dickem Fell und dennoch passten sie sich den außerordentlichen Witterungsbedingungen an.
In der Umgebung des Klosters „Rongbuk” in 5000 Meter Höhe lebte ein Rudel Hunde, das auf die exotischen Düfte der Kost von Bergsteigern aufmerksam geworden war. Sie warteten in der Nähe der Gruppe herumlungernd auf die herunterfallenden Reste. Sie näherten sich den Menschen jedoch nicht, nur der Leithund wagte sich auf Armeslänge heran. Er erlaubte es den großzügigeren Bergsteigern sogar, ihn zu streicheln. Die Ungarn gaben den Hund den Namen „Erzsi” und damit er nicht mit den aus anderen Gegenden stammenden Hunden namens „Erzsi” verwechselt werden kann, erhielt er den vollständigen, halb tibetischen, halb ungarischen Namen „Erzsi Rongbuk“. Seine Anhänglichkeit zeigte sich auch darin, dass er sein Rudel verließ und die ungarische Gruppe bis in 7500 Meter Höhe beim Bergsteigen begleitete. Nachts buddelte er sich vor dem Eingang des Zelts ein und bis zum Morgen schmolz die Wärme seines Körpers ein tiefes Loch in den Schnee. Zsolt versuchte, ihn nachts in das Zelt zu rufen, doch der bloße Anblick des geschlossenen Zeltes schreckte ihn zurück. Umsonst! Er wurde frei geboren. Erzsi war in der Geschichte sicher der Hund, der als „freiwilliger” Bergsteiger-Hund die höchsten Höhen erklomm und trug sich damit auf ewig in das Gedächtnis der hierher kommenden Alpinisten ein. Ein amerikanischer Expeditionsführer nahm ihn schließlich in die Staaten mit, wo Erzsi und ihr Besitzer vielleicht bis zum heutigen Tag ihrem gemeinsamen Hobby, dem Bergsteigen, frönen.
Am Ende der Geschichte war die gesamte Ausrüstung von Zsolt fertig zum Trainieren. Als Schuhe zogen wir ihm die extra leichten Tourenschuhe „Owney” an. Der Schuh wurde auch an die Prothese angezogen. Um seine Taille trug er den Jogging Gurt „Julius-K9”, an dem eine Leine befestigt wurde, deren elastische Beschaffenheit die Inanspruchnahme der Wirbelsäule des Menschen durch das vom Hund ausgehende Ziehen mindert.
Auch Lizi statteten wir mit einem wunderschönen IDC Hundegeschirr aus und machten uns auf den Weg.
Das Training in dem Freien, das er in den Monaten seit seiner Krankenhausbehandlung absolvierte, ist ausnahmslos mit dem Schäferhund verbunden. Auf dem bekannten Weg und im entsprechenden Tempo zog er seinen Herrn über die Wiesen, aus Mangel an Schnee leider laufend, ohne Skier. Es war eine Freude zu sehen, wie dieser Mensch, der seit seiner Kindheit in der Bewegung und vor allem in Extremsportarten sein Glück fand, sich nicht durch den Schicksalsschlag entmutigen ließ. Gutgelaunt spornte er seinen Hund an, der seinerseits natürlich dafür unternahm, um sein Herrchen zu höherem Tempo zu bewegen. Das Ziel des immer wilderen Tempos der zwei Läufer wurde uns jedoch rasch klar: eine junge Dame und daneben ein kleines Kind, das angestrengt mit seinem Plastik-Rad durch das Gras fuhr. Hilda Sterczer, die Ehefrau von Zsolt, und seine zweijährige Tochter Gerda spazierten auf der Wiese. Als wir hinkamen, gab Gerda uns allen mutig die Hand. Unwillkürlich stellte ich Zsolt meine vielleicht wichtigste Frage:
Gibt es einen absoluten Gipfelpunkt in deinem Leben?
Der Bergsteiger zählte die Berge auf, die er noch sehen möchte.
Gibt es auch Gipfel in deinem Privatleben?
Ja! Jetzt bin ich da angekommen!
Als ich danach fragte, ob er nicht um den in seinem Privatleben erreichten „Gipfel” besorgt ist, wenn er sich allein zu der Erstürmung eines Berggipfels aufmacht, lächelte mich an.
Meine Frau ist eine stärkere Bergsteigerin als ich. Wir waren mehrmals
zusammen auf einer Expedition und sie ging voran, um den Schnee zu brechen. Ich war die „Erfahrung”, sie war die „rohe Kraft”. Jetzt, da unsere Tochter geboren ist, muss sie zu Hause bleiben, doch in ihrem tiefsten Inneren ist sie mit mir zur Spitze unterwegs und das gibt mir Kraft. Sie weiß, dass man damit nicht aufhören kann…
Wenn ich meine Gefährten hinter mir lasse und entscheide, die letzten 1000 Meter bis zum Gipfel allein zu bewältigen, weiß ich genau, wofür meine Reserven ausreichen. Wenn es der Zufall dennoch will, dass ich mich verletze, akzeptiere ich die Folgen und mache niemanden dafür verantwortlich. Es ist übrigens viel gefährlicher, mit einer schwächeren oder müden Gruppe unterwegs zu sein als allein, wenn es sich wirklich um einen kritischen Wegabschnitt handelt.
Vielleicht ist das in allen Bereichen des Lebens so. In einer Gruppe erwarten wir, dass andere auf uns auf achten und wenn sich ein Fehler in die Maschinerie einschleicht, machen wir uns nicht in erster Linie selbst für das Geschehene verantwortlich. Wenn es dort auf dem Gipfel nicht so kalt wäre und er nicht so hoch läge, würde vielleicht jeder Psychologe seinen Patienten als Übung zur Selbsterkenntnis das Besteigen des Mount Everest, möglichst mit einem Hund, empfehlen.
Sebő Gyula – K9